Oksana Miroshnichenko-Braun
Lizensierte Gästeführerin in Heidelberg, Mannheim, Schwetzingen, Speyer, Weinheim und Region
Mitglied im Bundesverband der Gästeführer in Deutschland e.V.
Mitglied des Heidelberger Gästeführer e.V.
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Russen in Heidelberg
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22.05.08.07:37
Eine Geschichte über den Heidelberger Literaturstreit zwischen russischen Wissenschaftlern und Klassikern der Literatur: Sofia Kovalevskaja und Ivan Turgenev.
Sofia Vasilevna Kovalevskaja, geborene Korvin-Krukovskaja, 1850 bis 1891, lernte in Heidelberg Ihren späteren Ehemann, den russischen Zoologieprofessor Vladimir Kovalevski kennen. Nur durch die folgende Heirat und die Beziehungen ihres Ehemannes bekam sie die Studienerlaubnis und konnte so als erste Frau die Universitäts-Vorlesungen besuchen. Sie promovierte dann auch als erste Frau in Mathematik an der Universität Göttingen und erhielt später in diesem Fachgebiet eine Professur an der Universität Stockholm.

Ivan SergeevichTurgenev, 1818 bis 1883, ist der Klassiker der russischen Literatur, der dort eine Vorreiterposition eingenommen hat. Er war einer der ersten, der über die Nöte und Ängste der russischen Gesellschaft schrieb. Turgenev gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des Russischen Realismus. Er pflegte die Lyrik und war Autor von Dramen und Komödien – darunter die berühmte Erzählung „Aufzeichnungen eines Jägers“ und „Dunst“. In „Väter und Söhne“ verarbeitete er das Thema Generationenkonflikt.

Nikolaj Ivanovich Pirogov, 1810 bis 1881, Arzt und Bildungspolitiker, Anatom und Chirurg, war der bedeutendste aller Russischer Chirurgen. Er gilt als Gründer der Kriegschirurgie und arbeitete an den Universitäten Berlin und Göttingen, Moskau, St. Petersburg und im Kriegslazarett von Sewastopol auf der Halbinsel Krim. Mit erst 26 Jahren erhielt er bereits eine Professur an der Universität Dorpat.

Die hier nun erzählte Geschichte ereignete sich in den 60 er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts und war ein Beispiel für die vielen russischen Aktivitäten in Heidelberg:

Ivan Sergeyevich Turgenev kam mehrmals zu Arztbesuchen nach Heidelberg. Dabei suchte er auch den zu dieser Zeit hier lebenden russischen Medizin-Professor Pirogov auf, einen weltberühmten Arzt, der als Professor für Chirurgie in Heidelberg tätig war, um mit ihm seine medizinischen Probleme zu besprechen. Turgenev übernachtete damals im Hotel Schrieder - der Name steht heute noch auf der Fassade des heutigen Holiday Inn Grand Plaza.

Pirogovs Rolle in Heidelberg war, im Auftrag der russischen Regierung als Kurator für russische Studenten tätig zu sein. Im Mansarden-Geschoss seines Wohnhauses in der Plöck 52 ließ er eine russische Lesehalle errichten. Diese galt damals als das Kulturzentrum für alle russisch sprechenden Wissenschaftler. Hier konnte Turgenev alle Neuerscheinungen russischer Literatur und Zeitungen lesen, die Pirogov aus der Heimat beschafft hatte. Auch die Lesungen aus seinem neuen Roman „Väter und Söhne“ führte Turgenev hier durch. Die Gestalt seines Romanhelden Basarov ist jedem Russen aus der Schulzeit bekannt. Basarov war die Verkörperung des Nihilismus: Grob gesagt, wollte er die Alte Welt auslöschen und die Neue Welt mittels naturwissenschaftlicher Methoden erschaffen. So sollte wieder eine neue, eine bessere Generation heranwachsen.

Diese Idee fanden allerdings die russischen Studenten in Heidelberg zu brutal und negativ dargestellt. Es kam zu einer heftigen Literaturdebatte und Sophia Kovalevskaja drückte die kontroverse Position der damaligen russischen Studentengeneration in ihrem Gegenroman „Die Nihilistin“ am treffendsten aus. Nihilismus bedeutete für sie und ihre Freunde nicht die Verneinung aller Werte, sondern Bejahung von gesellschaftlichen Reformen. Ihre Generation – so schrieb sie - möchte das Beste aus dem Bestehenden nehmen und als Grundlage für die bessere Zukunft verwenden.
Diese Kontroverse fand hier in Heidelberg statt und war für das damalige Gesellschaftsleben ungemein wichtig und befruchtend. Vor allem, weil eine junge Frau ihre Stimme gegen einen etablierten berühmten Literaturklassiker erhob und dessen Position in Frage stellte und ein volles Programm für eine ganze Generation klar darstellte. Ihre spätere Tätigkeit als Mathematik-Professorin ließ diese soziologische Position leider in Vergessenheit geraten und ist somit für die heutige Menschheit unbekannt geblieben. Das sollte eigentlich nicht sein!

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Oksana Miroshnichenko-Braun